Erfolgs-Autor Titus Müller im Interview

Über die Kraft eines Liedes

Kaum ein anderes Weihnachtslied berührt die Herzen der Menschen wie „Stille Nacht, heilige Nacht“. In über 300 Sprachen übersetzt, wird es heute weltweit gesungen und gespielt. Doch wie ist das Lied entstanden? Titus Müller hat sich auf Spurensuche begeben – und eine besondere Weihnachtserzählung geschrieben.

Über die Kraft  eines Liedes

Wir sind ein wenig neugierig. Verraten Sie uns, wie Sie als Kind Weihnachten erlebt haben?



Seit ich denken kann, habe ich das Fest geliebt. Zuerst schmückten die Eltern hinter verschlossener Tür den Baum. Dann verteilten sie die Geschenke auf verschiedene Plätze. Meine Brüder und ich lauerten vor der Wohnzimmertür. Wir konnten kaum noch atmen vor Anspannung, klopft en andauernd und fragten, wie lange es noch dauere. Es roch nach Räucherkerzen und Tannengrün. Feierliche Weihnachtsmusik drang durch die Tür. Wir Kinder schlichen im Flur auf und ab und zitterten vor Freude.



Sie haben zwei Kinder – welche Rituale und Gebräuche möchten Sie Ihnen gerne mitgeben?



Zum Glück habe ich eine musikalische Frau geheiratet. Lena hat Musik studiert, sie liebt die Musik. Also gehört zu unserem Weihnachtsfest das Singen und Musizieren dazu. „Stille Nacht“ ist ein Muss wie früher in meiner Kindheit, etliche andere Lieder auch. Außerdem möchte ich unseren Jungs jedes Jahr erzählen, warum wir Weihnachten feiern. Letztes Jahr habe ich die Weihnachtsgeschichte recht simpel erzählt. Aber die Jungs werden ja langsam größer, bald kann ich mehr Details hinzufügen. Ich wünsche mir, dass sie wie ich darüber staunen, wie nah uns Gott gekommen ist und dass er uns nicht aufgegeben hat. Die Kinder bekommen natürlich Geschenke und es wird genascht. Habe ich erwähnt, dass ich Lebkuchen liebe?



In Ihrer neuen Erzählung schildern Sie anhand des Lebens von Joseph Mohr die Entstehung des wahrscheinlich berühmtesten Weihnachtsliedes „Stille Nacht“. Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?



Ich war neugierig. „Stille Nacht“ wurde ja in mehr als dreihundert Sprachen übersetzt, es ist eines der erfolgreichsten Lieder der Welt. So viele Musiker haben sich in dieses Lied verliebt, von Johnny Cash, Ella Fitzgerald und Jimi Hendrix über Elvis Presley bis zu Simon and Garfunkel oder Tori Amos. Es wurde zum Unesco-Kulturerbe erklärt. Und immer wieder berührt es die Menschen, die es singen. Wo kommt es her? Wer hat den Text geschrieben, und wem verdanken wir die Melodie? Das hat mich interessiert.



Sie nehmen Ihre Leser mit in das Jahr 1817 – was hat Sie bei der Recherche zu Ihrem Roman am meisten überrascht?



Dass Joseph Mohr diesen berührenden Text schreiben konnte, obwohl er unter schwierigen Verhältnissen aufwuchs und kaum den Kriegen und der Armut entkam.



Als unehelicher Sohn hat Joseph Mohr seinen Vater nie kennenlernen können. Später trifft er immerhin seinen Großvater. Was meinen Sie, welche Auswirkung diese schwierige Familiengeschichte auf den jungen Joseph Mohr hatte?



Seine Mutter Anna arbeitete als Strickerin. Jedes ihrer vier Kinder stammte von einem anderen Vater, und für jedes von ihnen musste die Mutter im Stadtgericht in einem demütigenden Unzuchtsverfahren ihre Sünde bekennen und eine Strafe zahlen. Man war damals gebrandmarkt als uneheliches Kind. Die Eltern konnten angezeigt werden, meldeten sie sich selbst, fiel die Strafe milder aus und sie konnten sie durch Handarbeit oder mit einer Geldsumme – wie Anna es tat – abbüßen. Dabei hätte Anna sicher gern geheiratet, nur musste dazu die zuständige Stadtbehörde ihre Zustimmung geben und Voraussetzung für die Hochzeitsgenehmigung war, dass das Paar über ein ausreichendes Einkommen verfügte. Man wollte mit dieser Regelung das Wachstum der verarmten Unterschicht eindämmen. Manche Paare gingen ins Ausland, um dort zu heiraten und dem strengen Gesetz zu entgehen. Kehrten sie aber nach Salzburg zurück, wurden sie mit drei Jahren Zuchthaus bestraft. Anna, die sich mühevoll von der Näherei ernährte, fehlten für die Familiengründung die Mittel. Josephs Vater war Musketier im Dienst des Fürsterzbischofs. Ein halbes Jahr vor Josephs Geburt tauchte er unter. Joseph lernte ihn nie kennen. Ein Familien Idyll wie im Lied „Stille Nacht“ gab es für ihn nicht, ein Idyll, in dem zwei Eltern einander vertrauen, wie es in der ersten Strophe heißt, und über ihr Kind wachen. Er wuchs vaterlos und in Armut auf. Aus Mitleid nahm sich ein Domvikar des Jungen an und ermöglichte ihm eine erstklassige musikalische Ausbildung und ein Theologiestudium. Trotzdem musste er, um Hilfspriester werden zu dürfen, beim Erzbischof um „Dispensation wegen Ermangelung der ehelichen Geburt“ bitten. Dann erfuhr er, dass sein Vater gestorben war, ohne dass die beiden sich je getroffen hätten. Das muss eine tiefe Enttäuschung für ihn gewesen sein.



Dieses mangelnde Interesse des Vaters an ihm – ich kann mir die Verletzung des jungen Joseph Mohr aus malen. Dass er anschließend eine Stelle in Mariapfarr im Lungau erhielt, war sicher kein Zufall, er wird darum gebeten haben, um sich auf die Suche nach seinem Großvater machen zu können. Die väterliche Seite seiner Familie kannte er nicht. Nun endlich fand er den Vater seines Vaters. Auch wenn ihnen nur wenige Monate vergönnt waren, bevor der 86-Jährige starb: Joseph wird viele Fragen an ihn gehabt haben. Wie war mein Vater? Bin ich ihm ähnlich? Nachdem der Großvater starb, trug Joseph mit eigener Hand den Tod und das Begräbnis in das Kirchenbuch ein.



Nach dem Tod seines Großvaters dichtet er die Strophen von „Stille Nacht“ – welche Sehnsucht schwingt für Sie in dem Lied mit?



All das, was Joseph Mohr im Leben verwehrt geblieben ist, sucht er bei Jesus Christus.



Als junger Hilfspfarrer kommt Joseph Mohr schließlich in den kleinen Ort Oberndorf bei Salzburg. Dort sorgen seine Liebe zur Musik und die Nähe zu den Flößern für Unruhe bei der geistlichen Obrigkeit. Warum eigentlich?



Ich zitiere mal aus dem Beschwerdebrief, den sein Vorgesetzter an das Konsistorium in Salzburg schickte: „Der Ort K. K. Laufen fordert seiner kritischen Lage wegen für die Seelsorgestelle anstandsvolle Männer. Priester Mohr ist es nicht. Dessen Wesen ist noch jugendlich, unbesonnen, hingebend. Burschenmäßig geht er mit seiner langen Tabakpfeife, den Beutel an der Seite, über die Gassen, er spielt und trinkt nächtlicherweile, er singt mitunter nicht erbauliche Lieder, er scherzt auch mit Personen des anderen Geschlechts, benimmt sich wenigstens nicht geistlich, und fährt mit Mädchen aus. Beim letztgroßen Wasser fuhr er gleich anderen Schiffsbuben im Nachen herum.



Das Studium und die Ausbildung zu seiner Seelsorge scheint er zu vernachlässigen und seiner Vorliebe für Musik und musikalische Unterhaltung alles zu opfern. Auch wohnt ihm der Subordinationsgeist nicht bei.“ Ich glaube, im letzten Satz liegt der Schlüssel. Joseph Mohr war seinem Vorgesetzten schlicht zu aufmüpfig. Als man die Vorwürfe nämlich prüft e, stellte sich heraus, dass die Bevölkerung überaus zufrieden mit Joseph war. Die Gemeindevorsteher bescheinigten ihm, dass sie mit seinem priesterlichen Dienst vollauf zufrieden seien und er die heiligen Handlungen andachtsvoll verrichte. Er stehe jedem Kranken bei, wenn man ihn rufe, und seine Kanzelvorträge höre die Gemeinde gern. Ich habe mir trotzdem erlaubt, aus den kleinen Andeutungen („fährt mit Mädchen aus“) einen Teil meiner Erzählung zu bauen: Eine junge Frau, ich nenne sie Sophie, verliebt sich in den musikalischen Hilfspriester. Das kann nicht ohne Komplikationen bleiben.



|b Trotz aller Schwierigkeiten und Brüche in den Beziehungen ist Versöhnung ein wiederkehrendes Thema in Ihrer Erzählung – warum war Ihnen das wichtig?



Es ist das Grundthema von Weihnachten. Und das Thema von „Stille Nacht“. Ich wollte zeigen, wie das Lied schon bei seiner ersten Aufführung zu Weihnachten 1818 Menschen verändern konnte. Franz Gruber und Joseph Mohr sangen es höchstwahrscheinlich nicht im Verlauf der liturgischen Handlung, sondern im Anschluss an den Gottesdienst, unten vor der aufgebauten Krippe. Dass sie das Lied mit der Gitarre begleitet haben, muss einiges Erstaunen hervorgerufen haben. Die Gitarre brachte man damals eher mit dem Wirtshaus in Verbindung, nicht mit der Kirche. So ungewöhnlich war es, in der Kirche das profane Instrument zu spielen, dass im Nachhinein die Legende der defekten Orgel erfunden wurde, um diesen Umstand zu erklären – man erzählte sich, dass die Orgel unspielbar gewesen sein müsse, und Franz Gruber und Joseph Mohr das Lied deshalb mit der Gitarre vortrugen. Für die Personen meiner Erzählung ist dieser Weihnachtsgottesdienst ganz entscheidend. Hier laufen die Fäden der Geschichte zusammen. Joseph Mohr findet durch das Lied einen Weg, das Leben der Zuhörer zu verändern.





Eine Leseprobe zum Buch Stille Nacht finden Sie hier