Fragen des Lebens und Sterbens

„Und wenn ich nicht mehr leben möchte?“

Haben wir das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, wenn wir selbst oder andere schwer erkranken und Schmerzen leiden? Im November stimmt der Bundestag über neue Gesetzentwürfe zum Thema Sterbebegleitung und -hilfe ab. In ihrem Buch "Und wenn ich nicht mehr Leben möchte?" stellen sich Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider den Fragen der ZEIT-Journalistin Evelyn Finger.

„Und wenn ich nicht mehr leben möchte?“

Evelyn Finger: Ein Beispiel aus der Praxis: Zu Hause sitzt die Oma, 86 Jahre alt, und trinkt nichts mehr. Die Enkelin steht daneben und denkt sich: „Was machen wir jetzt mit der Oma? Wenn ich keinen Arzt rufe, stirbt sie mir.“ Also ruft  sie den Arzt. Der ruft sofort einen Krankenwagen, um nicht zu riskieren, dass sie an Austrocknung stirbt. Die Oma hatte vielleicht sogar vor zu sterben – konnte das aber gar nicht mehr so richtig äußern. Jetzt wird sie ins Krankenhaus gebracht, drei Tage aufgepäppelt, kommt wieder nach Hause, trinkt wieder nichts. Was tut man da? Und sollte der Arzt nicht auch Helfer sein, indem er manchmal etwas unterlässt?




Nikolaus Schneider                 Foto: Steffen Roth



Nikolaus Schneider: Wenn der Arzt weiß, was der Wille dieses Menschen ist, dann muss er auch nicht handeln. Er sollte respektieren, wenn die 86-jährige Oma sagt: „Ich will nicht mehr.“ Gut wäre, wenn diese das ihrer Enkelin in besseren Tagen schon vermittelt hätte.



Evelyn Finger: Im richtigen Leben ist das manchmal schwierig. Stellen Sie sich vor, nachmittags kommt der Ehemann der Enkelin heim und die Oma ist tot. Seine Frau hatte zwar den Arzt gerufen, der aber wollte nichts unternehmen. Und jetzt geht es um die Frage der unterlassenen Hilfeleistung. Denn der junge Mann findet: Sie ist gestorben, weil der Arzt nicht gleich gehandelt hat.

Nikolaus Schneider: Ich kann letztlich nicht entscheiden, was in dieser Situation richtig oder falsch gewesen wäre. Klar ist: Es gibt keinen Zwang zum Leben. Keiner, auch kein Arzt, hat das Recht, jemanden gegen seinen Willen an einen Tropf oder eine Maschine zu hängen.



Evelyn Finger: Aber das ist doch die klassische Situation. Jeden Tag passiert das in Deutschland tausendfach. Im Zweifelsfall hängt man die alten Leute, die nicht mehr essen und nicht mehr trinken, an den Tropf. Und schon sind sie quasi Gefangene unseres freiheitlichen Gesundheitswesens. Und mit ein bisschen Pech kann die Enkelin noch nicht einmal etwas dagegen unternehmen, weil es keine Patientenverfügung gibt.



Nikolaus Schneider: Das ist grauenhaft. Das will ich nicht.



Hermann Gröhe: Und es ist, mit Verlaub, ein Zerrbild der Realität in unseren Krankenhäusern und Pflegeheimen! Keineswegs wird tausendfach gegen den Willen von Patientinnen und Patienten verstoßen. Aber wenn der Notarzt gerufen wird – bei einem Unfall oder wenn jemand plötzlich umkippt –, muss eben zumeist schnell gehandelt werden – bevor man nach einer Patientenverfügung überhaupt fragen kann. Dabei lassen sich – dies habe ich gerade erlebt – die Ärztinnen oder Ärzte vor allem von der Frage leiten: Was täte ich bei meiner Mutter? Was unterließe ich? Keineswegs bestimmt ein falscher Lebensverlängerungsehrgeiz oder die Angst vor dem Staatsanwalt ihr Handeln. Und im von Ihnen geschilderten Fall, der Unsicherheit der Enkelin über die Oma, die nichts trinkt, ändert eine Zulässigkeit organisierter Selbsttötungshilfe oder ärztlicher Suizidassistenz überhaupt nichts! Stets geht es darum: Wie schätzt die Enkelin die Lage, den Willen der Oma ein? Was kann sie dem Arzt sagen?



Evelyn Finger: Was kann man gegen diese Unsicherheit denn unternehmen?



Hermann Gröhe: Sich ihr erst einmal stellen. Ich hoffe, dass die öffentliche Diskussion mit dazu beiträgt, dass noch mehr Menschen mit ihren Angehörigen rechtzeitig über die wesentlichen Fragen sprechen: Wie stelle ich mir mein Sterben vor? Möchte ich zu Hause sterben oder in ein Krankenhaus gebracht werden, wenn absehbar ist, dass es zu Ende geht? Das zu klären, ist genauso wichtig wie die Patientenverfügung oder vor allem die Vorsorgevollmacht. Wann muss man aufpassen, dass ein altersschwacher Angehöriger nicht verdurstet? Wann muss man aufpassen, dass man einen Sterbewilligen nicht zum Trinken zwingt? Wann braucht ein Sterbender einfach nur Mundpflege, die die Mundtrockenheit aufgrund des Flüssigkeitsmangels lindert? Wann muss man aufhören, einen geliebten Menschen zu weiterer Nahrungsaufnahme zu nötigen? Dahinter steht die Frage: Wann ist es Zeit, Abschied zu nehmen und loszulassen? Fragen, die uns an unsere Grenzen bringen.




    Hermann Gröhe        Foto: Laurence Chaperon



Evelyn Finger: Können Familien das alles überhaupt leisten?



Hermann Gröhe: Da sprechen Sie etwas Wichtiges an. Die Angehörigen werden hier sicher sehr belastet. Da muss die Gesellschaft Hilfestellungen geben. Und die gibt es, wir werden sie aber ausbauen. Und die Rückfrage: Wer sollte es besser können als Familie und enge Freunde? Zugleich unterstreicht Ihr Beispiel erneut, wie wichtig es ist, sich rechtzeitig in der Familie darüber auszutauschen, was der Einzelne in seiner letzten Lebensphase noch an Behandlung wünscht. Solche Gespräche sind wichtig, damit die Angehörigen im Fall der Fälle nicht noch mit der Frage belastet sind: „Oje, hätten wir bloß mal drüber geredet. Was würde Mutter oder Vater jetzt wollen?“ Ein Weg, um zu diesem sicher nicht leichten Thema ins Gespräch zu kommen, kann das gemeinsame Erstellen einer Vorsorgevollmacht oder einer Patientenverfügung sein. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Katholische Deutsche Bischofskonferenz haben einen Leitfaden erarbeitet, den man dazu nutzen kann. Man findet ihn unter dem Stichwort „Christliche Patientenvorsorge“. Auch das Justizministerium bietet zum Thema Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung eine gute Handreichung.



Nikolaus Schneider: Ich möchte noch mal etwas zu dem geschilderten Fall mit der Oma, die nichts mehr trinken möchte, sagen. Erstens würde ich mir sehr wünschen, dass die Enkelin mitbekommt, wenn Oma nicht mehr leben will – dass also erst gar nicht der Arzt geholt wird. Und dass sie weiß: Ein Sterbender hat nicht dadurch Schmerzen, dass er nicht mehr isst und trinkt.



Evelyn Finger: Sondern?



Nikolaus Schneider: Ich habe meinen Vater beim Sterben begleitet und weiß seitdem, dass die Verweigerung der Nahrungsaufnahme in der letzten Lebensphase nicht zu Schmerzen, sondern zu einem friedlichen Sterben führt. Wenn die Enkelin nicht Bescheid weiß und den Arzt ruft, weil Oma nichts mehr trinkt, dann wünschte ich mir von diesem Mediziner, dass er als Erstes fragt: „Sagen Sie mal, will Ihre Oma vielleicht sterben?“ Er sollte versuchen, die Enkelin von ihren Ängsten zu befreien, damit die alte Frau friedlich sterben kann.



Hermann Gröhe: Man wünscht sich ja auch, dass der Arzt nicht plötzlich hinzutritt, wenn es gar nicht mehr anders geht, sondern dass er die Familie schon länger kennt und begleitet. Wenn du in einer Palliativ-Station angeleitet durch eine Schwester einem geliebten sterbenden Menschen den Mund befeuchtest, bist du, in aller Trauer, dankbar, helfen zu können. Hilfe sollte auch rechtzeitig erbeten und angenommen werden. Wie oft  habe ich von Ehrenamtlichen im ambulanten Hospizdienst gehört: Wie viel mehr hätten wir einer Familie helfen können, wenn wir nicht drei oder vier Tage, sondern drei oder vier Wochen vor dem Tode gerufen worden wären. Das belastet die Helferinnen und Helfer und führt zu fehlender Unterstützung.




Evelyn Finger         Foto: Vera Tammen



Evelyn Finger: Ist der Anruf beim Hospizdienst in unserer Gesellschaft  tabuisiert?



Hermann Gröhe: Nach meiner Erfahrung leider ja. Wenn man das vorschlägt, denken manche Leute, man rufe schon nach dem Bestatter. Deshalb melden sich viele erst, wenn sie merken: Jetzt geht gar nichts mehr. Hilfe! Es wäre übrigens auch für die Ehrenamtlichen schön, wenn sie in einer Phase hinzu gerufen würden, wo sie noch wirklich helfen können. Wenn Zeit bleibt, sich aufeinander einzustellen, letzte Dinge noch in Ruhe zu regeln, bewusst und in Würde Abschied zu nehmen. Ist der Grund für die späten Hilferufe wirklich nur die Weigerung, sich einzugestehen, dass jemand stirbt?



Hermann Gröhe: Sicher gibt es viele Gründe: Unsicherheit im Hinblick auf den Ernst einer Lage, unzureichende Gesprächsbereitschaft unter den Beteiligten, die Frage, ob ein Fremder wirklich helfen kann, helfen soll, der Wunsch, es alleine zu schaffen.



Evelyn Finger: Was raten Sie den ängstlichen Angehörigen?



Hermann Gröhe: Zögern Sie nicht! Hospize und ambulante Hospizdienste wurden zur Betreuung Schwerstkranker und Sterbender eingerichtet. Nutzen Sie sie – gerade wenn Sie unsicher sind, wann eine schwere Erkrankung in die Sterbephase übergeht. Scheuen Sie keine Fragen!



Nikolaus Schneider: Für viele Menschen ist das Wort „Sterben“ ein Schreckenswort. Etwas Ultimatives, Düsteres. Jeder, der schon einmal damit zu tun hatte, weiß aber: Sterben kann auch hell und freundlich sein. Es gibt Höhen und Tiefen. Schreckliche und schöne Momente, wo man lachen kann oder weinen muss. Es ist ein Vorgang voller Leben und man kann ihn gestalten.





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