Uschi Glas schreibt über ihre Herzenssache

Vom Glück gebraucht zu werden

Uschi Glas und ihr Mann Dieter Hermann haben eine Aufgabe gefunden und angenommen, die sie erfüllt: Sie sorgen mit dem Verein „brotZeit“ und mehr als 1.000 Senioren dafür, dass Tausende von Kindern ein gutes Frühstück bekommen. Und dass sich andere Menschen für sie Zeit nehmen. Uschi Glas erzählt, wie alles begann.

Vom Glück gebraucht zu werden
Uschi Glas mit Grundschulkindern (c) API / M. Tinnefeld
Es ist ein strahlend schöner Herbsttag, die Luft ist klar und die Sonne noch einmal sommerlich warm. Ich fahre im Auto die Ludwigstraße entlang. Auf den breiten Gehwegen sehe ich lachende, fröhliche Menschen, die schlendernd ein Eis essen, die Cafés sind brechend voll. Wie so oft denke ich: München ist eine der schönsten Städte. Und was für ein großes Glück ich doch habe, hier zu Hause sein zu dürfen. Im Radio läuft gute Musik – ich bin mit mir und der Welt im Reinen. Danach beginnt eine Reportage, anfangs höre ich gar nicht richtig hin. Doch dann dringt ein Wort in mein Bewusstsein: dreitausend. Diese Zahl trifft mich in meinem Innersten und löst mein wohliges Gefühl schlagartig auf. Mir laufen Tränen übers Gesicht.

Dreitausend.

In München gehen jeden Tag dreitausend Grundschulkinder hungrig in die Schule; das ist die Nachricht, die ich im Radio gehört hatte. Fast jedem dritten Kind zwischen sechs und zehn Jahren knurrt während des Unterrichts der Magen, weil es kein Frühstück bekommen hat. Das kann doch nicht sein! […]

Dass sechs­ bis zehnjährige Kinder, umgeben von Wohlstand, jeden Tag Hunger leiden müssen. Unfassbar! Das kann ich nicht einfach zur Seite schieben oder außer Acht lassen. Ich kann es überhaupt nicht glauben. Nein, ich will das nicht glauben! Und doch weiß ich tief im Herzen: Es ist ja wahr! Das stimmt tatsächlich! […]

Ich war von der Nachricht im Bayerischen Rundfunk nicht einfach nur betroffen. Ich war von Grund auf erschüttert. Diese kurze Radioreportage hat mein Leben verändert. Ich habe lange darüber nachgedacht, warum das so war.

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Von klein auf habe ich mitbekommen, wie hart es sein kann, wenig zu haben. Meine ersten Erinnerungen fallen in die unmittelbare Nachkriegszeit. Die amerikanischen Besatzer hatten damals für uns die sogenannte „Schulspeisung“ organisiert. Ich war damals noch kein Schulkind, durfte mich aber ebenfalls einreihen. Meine älteren Geschwister haben mich mitgenommen. Auf dem Platz gleich neben dem Kino meiner Heimatstadt Landau an der Isar köchelten in gigantischen Töpfen Eintopf und Corned Beef. Wir Kinder aßen unter offenem Himmel. Ich habe nie den erdigen Geruch der dicken Erbsensuppe vergessen, der mich warm umhüllte, wenn ich in der Schlange vor dem riesigen Kessel stand.

Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, kommt mir eine kleine Begebenheit in den Sinn. Manchmal reicht ein Klang aus, ein Geruch – oder auch nur der Gedanke an einen Geruch –, um scheinbar längst Vergessenes, einen winzigen Erinnerungsfetzen, wieder ins Bewusstsein zu spülen:  Ich stehe in einem Wintermantel, aus dem ich eigentlich schon herausgewachsen bin, mit meinem Schälchen Erbsensuppe auf dem Platz.

Meine Mutter hat den Mantel  an den zu kurzen Ärmeln mit einem Webpelzchen verlängert, damit meine Handgelenke warm sind. Und genau auf diesen Pelz habe ich ein wenig Suppe verschüttet. Der schöne Besatz ist mit Suppe verklebt, zwischen den feuchten Zotteln kleben ein paar dicke Erbsen. Ich schäme mich fürchterlich für meine Ungeschicklichkeit.

Am besten waren in jener Zeit die Care­-Pakete. Wann immer eins für unsere Familie ankam, war das ein Festtag. Schon der Duft, der das Paket umwehte, war unwiderstehlich: Wir Kinder rochen sofort den Kakao und die Schokolade heraus. So wie ich die Maserung des Familientischs, auf dem die Pakete ausgepackt wurden, noch genau vor Augen habe, ist auch dieser ganz besondere Wohlgeruch in mir gespeichert, verbunden mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit über die Großherzigkeit fremder Menschen. Wir bejubelten alles, was da beim Auspacken zum Vorschein kam: Dosen mit Baked Beans, Cadbury­-Schokolade und andere Herrlichkeiten. […] Und einmal erfüllte so ein Care­Paket sogar meinen sehnlichsten Herzenswunsch.

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Ich wollte immer eine eigene Puppe haben. Keine, die ich von meinen Schwestern Sigrid und Heidi geerbt hatte, sondern eine, die wirklich nur mir ganz allein gehörte. Und auch keine selbst gemachte, so wie meine Mutter sie für meine Schwestern nähte, mit einem Körper aus Stoff, gefüllt mit alten Strümpfen. Man konnte diese Puppen zwar richtig gut an sich drücken, weil sie herrlich weich waren. Aber die Puppe meiner Träume sah einfach anders aus: Ich wollte unbedingt eine richtige Schildkröt-Puppe haben, eine aus dem Laden, so wie die Nachbarskinder auch. Eigentlich dumm, denn mit ihren harten Zelluloidkörpern waren die nicht so richtig zum Knuddeln geeignet. Aber so wie fast alle Kinder (und manchmal auch Erwachsene) wollte ich eben das haben, was alle hatten.

Noch heute denke ich mit einem warmen Gefühl der Dankbarkeit an jene Menschen, die im fernen Amerika dieses Care­Paket gepackt hatten, aus dem genau solch eine Puppe zum Vorschein kam. Sogar Schlafaugen hatte sie! Wieder und wieder legte ich sie hin und nahm sie wieder auf und legte sie wieder hin, nur um zu sehen, wie ihre Augenlider sich immer wieder schlossen und öffneten. Ich bestaunte diese wunderschöne Puppe wie ein Wunder. Mein Herz hätte vor Glück zerspringen können!

Gleich nach dem Krieg waren noch die allermeisten Menschen arm. Aber auch später, in den 1950er­Jahren, war meine Familie alles andere als wohlhabend. […] Neulich habe ich nach alten Fotos gesucht und dabei bin ich auf ein kleines Haushaltsheftchen gestoßen, das meine Mutter akribisch geführt hatte. Jede Ausgabe war eingetragen, es waren Minibeträge zusammen addiert. Da wurde mir noch einmal klar, mit welch kleinem Budget meine Mutter hatte klarkommen müssen.

Obwohl Armut und Sparsamkeit zu meiner Kindheit gehörten, haben wir nie gehungert. Meine Mutter kam aus dem Schwabenland und war eine hervorragende Köchin. Sie hatte die Gabe, aus dem im Garten selbst angebauten Gemüse und ein paar anderen, günstigen Zutaten immer wieder etwas Vernünftiges auf den Tisch zu bringen. Brot haben wir meist selbst gebacken, auch Joghurt wurde selbst zubereitet. Vieles von dem, was aus dem Garten geerntet wurde, weckte meine Mutter auch ein oder kochte Marmelade aus den Früchten.

Und auch wenn wir nicht viel hatten, war es für sie selbstverständlich, immer wieder Menschen an unseren Tisch einzuladen. Das hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich denke zum Beispiel an eine alleinstehende Nachbarin, die sehr oft bei uns zu Besuch war. Wenn dann Essenszeit war, wurde einfach ein zusätzlicher Stuhl für sie geholt. Nie im Leben wäre Mutti auf die Idee gekommen, sie hinauszukomplimentieren, auch wenn es für uns selbst oftmals knapp war.

Ich weiß also, wie es sich anfühlt, wenig zu haben, aber genauso weiß ich auch, dass Teilen zum Leben dazugehört. Als Kind habe ich erlebt, dass man etwas abgeben kann, selbst wenn man wenig hat, und ich habe erfahren, wie glücklich es macht, ganz selbstlos von einem anderen beschenkt zu werden. All das habe ich nicht vergessen, auch später nicht, als ich Erfolg hatte und mir vieles leisten konnte. Dieses Gefühl von damals hat sich mir eingeprägt und mich auf all meinen Lebensstationen begleitet. […]

Als ich dann den schon erwähnten Radiobericht über die hungrigen Kinder in München hörte, hätte ich mich informieren können, ob man Geld für ein sinnvolles Projekt spenden kann. Oder in einem der nächsten Interviews auf das Problem aufmerksam machen, um dem Thema auf diese Weise Öffentlichkeit zu verschaffen und die erschütternde Zahl nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich hätte darauf bauen können, dass sich andere schon irgendwie darum kümmern würden. Mein Leben wäre im Großen und Ganzen genauso weitergelaufen wie zuvor.

Doch als ich an diesem wunderschönen Herbsttag nach Hause fuhr, merkte ich plötzlich: „Du bist gemeint.“ Es war wie eine Berufung und ganz sicher kein Zufall, dass ich genau in diesem Moment den Radio-Beitrag gehört hatte. Ab diesem Tag hat sich mein Leben radikal verändert. Damals war mir das noch nicht bewusst, aber im Nachhinein weiß ich, dass von Anfang an eine Stimme in mir sagte:  „Genau hier will ich gebraucht werden. Das hier bewegt mich so sehr, dass ich nicht einfach weiterleben kann wie bisher.“ […]

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Als ich damals, an jenem Herbsttag, nach Hause kam, war mein Mann Dieter schon da. Er sah sofort, wie aufgewühlt ich war und dass mich etwas aus der Bahn geworfen hatte. Sobald ich ihn sah, brach die ganze Geschichte auch schon aus mir heraus. Schließlich schaute ich ihn fragend an: „Was sollen wir tun?“ Zwar wusste ich, dass wir in den grundsätzlichen Lebensfragen hundertprozentig übereinstimmen, dennoch hätte es sein können, dass Dieter das Thema nicht so persönlich berührt hätte wie mich. Oder dass er mir davon abgeraten hätte, mich in dieser Sache zu engagieren. […]

Doch er merkte sofort, wie ernst es mir war, wie tief ich von dem Bericht getroffen worden war und dass ich keine Ruhe finden würde, wenn ich nicht handeln und helfen konnte. Mehr noch: Er hatte sofort den gleichen Impuls wie ich, tatsächlich etwas an diesen unerträglichen Zuständen ändern zu wollen: „Wir werden der Sache nachgehen. Gemeinsam bekommen wir raus, was da genau los ist. Und wenn es stimmt, was du gehört hast, dann werden wir etwas tun. Es darf nicht sein, dass Kinder hier in München hungern müssen.“

Der Funke war übergesprungen. Und die Aussicht, gemeinsam mit ihm gegen diese Ungerechtigkeit vorgehen zu können, gab mir einen enormen Kraftschub. Ohne Dieter wäre alles ganz anders gekommen, das steht fest. Allein hätte ich es nicht geschafft und den Verein „brotZeit“ gäbe es nicht.

Gekürzter Auszug aus dem Buch Herzenssache von Uschi Glas