Unsere Liebe soll nicht traurig sein

Was uns prägt

Ein Kriegskind begibt sich auf Spurensuche. Oliver Kohler schreibt über über ein Schicksal, das so viele Familien teilen.

Was uns prägt
Walter Kohler um 1907
Es gibt Tage, die alles verändern. Am 28. Januar 1945, in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, treffen sich zwei Menschen. Vater und Sohn. Der eine ist ein leidenschaftlicher Maler. Der andere will genau das werden. Hilflos muss der junge Flakhelfer dabei zusehen, wie sein Vater bei einem Luftangriff stirbt. Ist die Liebe stärker als der Tod?

Er ist schon viel früher gestorben. Dreizehn bin ich, als sein Marschbefehl kommt. Danach habe ich einen Vater in Uniform. Er kommt heim, aber nur zu Besuch. Er spricht mit mir, aber immer unter dem Druck der Uhr. Das Mädchen, für das ich schwärme, hat er nie gesehen. Ich musste nichts heimlich tun, er hat es ja nicht mitbekommen.



Meinen Kindern soll ich die Liebe erklären, aber ich kann das nicht. Die Jahre, in denen ich jung war, sehen aus wie ein Acker, der angezündet wurde. Rauch über schwarzen Krumen. Kein Grün. Nirgends.



Vor der Bombe hat meinen Vater sein eigenes Land getötet. Der Mann im Kreiswehrersatzamt, der den Stempel auf den Stellungsbescheid hieb, der Briefträger, der ihn zustellte, der Ausbilder, der Kasernenkoch. Durch die Straßen gehe ich und sehe Mörder. Manchmal tanzen Gespenster um uns. Sie täuschen uns. Wieder und wieder.

Ich weiß es einfach nicht, wie es geht, ein naher Vater zu sein. Es springt nichts an in mir. Meine Kinder sollen sich auf mich verlassen können. Wenn sie mich suchen, bin ich da. Für sie. Ihre Briefe bekommen Antwort. Einladungen schlage ich nicht aus. Als wäre das schon alles. In mir ist so viel Ferne. Ich weiß, sie können mich nicht spüren unter unserem gemeinsamen Dach. Das Eis meines Schweigens entstand, als ich Vater viele Kilometer entfernt und in Gefahr wusste. Etwas in mir ist damals gestorben.

Trotzdem kommen sie zu uns nach Hause, die Freundinnen und Freunde der Kinder. Enkel des Krieges und doch aufgewachsen ohne Nächte im Luftschutzkeller. Sie lassen sich meine Bilder zeigen. Fragen mich, wie man Rosen schneidet. Wünschen sich, ich solle einmal wieder für sie kochen. Trotzdem kann ich mit den ganz Nahen über Krisen sprechen – und manchmal trösten. Es ist mir bis heute ein Mysterium, wie der radikal zurückgeschnittene Baum wieder austreibt. Etwas davon geschieht mit mir.

Wir sind eine Generation mit gemordeten Vätern.



Die meisten von ihnen trafen Kugeln, verschleppte das Meer nach einem Torpedoangriff, erstickten im Feuer der Flammenwerfer, traten auf Minen, fielen vom Himmel wie Steine. Vater könnte noch leben, wäre die weiße Fahne spätestens nach Stalingrad am Eingang der Städte und auf dem Reichstag gehisst worden. Wir haben verteidigt und uns dabei weiter selbst zerstört. Es gibt keinen Ort mehr des Vergegenwärtigens, den ich mit anderen teilen kann.

In der Osternacht wecken wir die Kinder und fahren zu dem Berg am Rand der Stadt, aufgeschüttet aus lauter Trümmern. Ganz oben ist nichts eingeebnet oder stilisiert. Steine, Fensterkreuze, ganze Zwischendecken ragen bizarr auf. Eine Kraterlandschaft ist entstanden mit spitzen Gipfeln und Schluchten, in die man abstürzen kann. Jeder findet irgendwo seinen Platz. Das Licht einer Kerze erwacht. Posaunen spielen einen alten Choral. Das will ich mit ihnen teilen: Licht auf den Trümmern. Meine Gedanken lösen sich nicht auf. Der Zorn ist groß. Doch da ist auch die Nähe meines Vaters. Ich glaube, er starb doch nicht schon 1941. Er war weg und irgendwie war er da.

Bei den Schneeballschlachten haben wir so gelacht, dass die offenen Münder beliebte Ziele waren. Das Bündel seiner Feldpostbriefe auf hauchdünnem Papier hüte ich wie einen Schatz. Er hat mich besucht in diesen Sätzen, er hat mich gesucht. Mich nicht häufiger sehen zu können, er hat darüber geweint und trug doch Bild um Bild von mir in sich: das blutende Knie, der scheue Kuss, die Kohlezeichnung vom Neckar mit Lastkähnen.

Vor unserem letzten Weihnachten waren wir beide in Berlin, konnten uns treffen, er schenkte mir ein winziges Neues Testament. Vorne hat er hineingeschrieben: Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft. Dein Vater.

Sie haben ihn ausgezogen, in eine Uni formgepresst. Sie haben ihn in Dreck und Angst erstarren lassen. Sie zwangen ihn, Menschen wie er selbst zu schaden. Sie haben ihn damit beschämt, großes Unrecht zu sehen. Sie haben ihn mir weggenommen. Dann kommt ein Brief. Dann kommt er selbst. Dann habe ich für Stunden einen Vater.

Gekürzter Auszug aus dem Buch Unsere Liebe soll nicht traurig sein von Oliver Kohler



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