Wenn Liebe über Vernunft geht

Entscheidung füreinander

Barbara und Markus gründen eine Familie, obwohl Markus durch Mukoviszidose eine geringe Lebenserwartung hat. Über die Macht der Liebe.

Entscheidung füreinander
Foto: Hélène Jordi
Ein gekürzter Auszug aus Barbara und Markus Hännis „Weil jeder Atemzug zählt“

Barbara: Oh, eine Menge sprach dagegen. Jedenfalls listete mein Verstand eine Unmenge an Unmöglichkeiten auf. Was, wenn Markus in einem halben Jahr tot wäre? Wollte ich dann leiden, um ihn trauern? Von meinem Umfeld her kannte ich es nicht anders, als dass eine Beziehung bedeutet, miteinander in die Zukunft zu schauen und langfristige Pläne zu machen. Wie wollte ich mit jemandem Pläne schmieden, dessen Lebenserwartung weit unter meiner lag? Nein, das wollte ich natürlich nicht.

Und doch ließen sich meine Gefühle für Markus nicht mehr so einfach wegargumentieren. Sie waren da. Und wenn ich auch Emotionen äußerst skeptisch gegenüberstehe und finde, dass man keine wichtige Entscheidung und vor allem keine Liebesentscheidung ausschließlich auf der Basis von Gefühlen treffen sollte, so war da immer häufiger jene andere Stimme in mir, die sagte: „Und wenn doch? Was, wenn bei Markus die Prognosen gar nicht zutreffen? Was, wenn seine Lebenserwartung höher ausfällt? Und überhaupt: Kann man sich jemals wirklich sicher sein, dass man gemeinsam alt werden darf, selbst wenn der Partner gesund ist?“

Was ist wichtiger: Quantität oder die Qualität der gemeinsam verlebten Zeit?



Als angehende Pflegefachfrau hatte ich täglich vor Augen, dass Gesundheit kein Gut ist, das uns garantiert erhalten bleibt. Ich arbeite inzwischen seit vielen Jahren in der Onkologie, und der Tod gehört zu meinem beruflichen Alltag selbstverständlich dazu. Auch ohne Krebserkrankung kann das Leben eines völlig Gesunden in einer einzigen Sekunde durch einen Unfall ausgelöscht werden. Der Wunsch einer jungen Frau, mit einem gesunden Mann eine Familie zu gründen, ist nur allzu verständlich. Rechtfertigt dieser Wunsch aber auch, dass man sich gegen eine Liebe entscheidet, nur weil der Partner gesundheitliche „Defekte“ aufweist? Widerspricht ein solches Denken nicht unserer Ethik und unserem Verständnis von Menschenwürde? Ist ein kranker Mensch denn weniger wert als ein gesunder? Was ist letztendlich wünschenswerter: eine Beziehung, die die Aussicht auf eine jahrzehntelange Dauer verspricht und nicht ganz so glücklich ist, gegenüber einer, die vielleicht nur wenige Jahre währt, aber umso erfüllter ist? Was ist wichtiger: Quantität oder die Qualität der gemeinsam verlebten Zeit?

Ich komme aus einer Familie, in der seit Generationen auf Leistung und Erfolg höchsten Wert gelegt wurde. Mein Großvater väterlicherseits vollbrachte das Wunder, die einfache Gaststube eines Bauernhauses in ein Restau-rant zu verwandeln, dessen Ruf sich immer mehr verbreitete. Das war nur mit eiserner Disziplin und unermüdlichem Fleiß möglich. Mein Vater übernahm schließlich gemeinsam mit meiner Mutter dieses Erbe und führte es nicht nur erfolgreich weiter, sondern erweiterte es noch und brachte es zu großem Ruhm. Dass er sehr unter der harten und ehrgeizigen Einstellung meines Großvaters gelitten hatte, war mir lange nicht bekannt. Er sprach nie darüber, erst vor wenigen Jahren offenbarte er in einem bewegenden Artikel, wie unglücklich ihn der enorme Druck und die auf ihm lastenden Erwartungen gemacht hatten. Dass sich diese erfolgsorientierte Prägung ohne viele Worte auf meine Schwester und mich übertrug, weiß ich heute. Leistung und Effizienz in dem, was man tut, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Damals beurteilte ich Menschen nach dem, was sie taten und erreichten. Und ausgerechnet ich verliebte mich in jemanden, dem es seine angeborene Krankheit unmöglich macht, an diesem gesellschaftlichen Wettlauf teilzunehmen?


Markus: Ich kann nicht erklären, warum, aber ich wusste einfach: Barbara ist die Liebe meines Lebens. Da gab es für mich kein Rütteln mehr, keine Zweifel, kein Hin und Her. Meine Liebe zu dieser Frau war so überwältigend stark, dass sie mein ganzes Leben in ein anderes Licht stellte. Es war auf einmal von Sinn erfüllt, und ich war einfach nur glücklich, wenn ich in ihrer Nähe sein konnte.
Dass sie ähnlich fühlte, machte mir Hoffnung. Dass sie allerdings so schwere Zweifel plagten, machte mir auch Angst. Was, wenn sie sich gegen uns entscheiden würde? Ich versuchte gelassen zu bleiben, sie nicht zu drängen und das Beste zu hoffen. Auf Gott zu vertrauen, dass es so kommen würde, wie es kommen sollte. Das war alles andere als leicht. Und eines Tages spielte mir mein geschwächter Körper wieder einmal einen Streich: In meinen vernarbten Lungen verfing sich wie so oft eine Infektion, und ich musste zu einer vierzehntägigen intravenösen Antibiotikakur ins Spital. Diese beiden Wochen waren eine schwere Zeit für mich. Auch wenn mich so eine Kur letztendlich rettet, so schwächen mich die Antibiotika, die per Infusion direkt in meine Blutbahn geleitet werden, jedes Mal zusätzlich und die Nebenwirkungen machen mir mehr und mehr zu schaffen. Manchmal fühle ich mich so kraftlos, dass ich nicht einmal mehr ein Buch lesen kann. In diesen Tagen wurde mir das Warten auf Besserung und das Warten auf Barbaras Entscheidung schwer und schwerer. In der Nacht vor meiner Entlassung gelangte ich schließlich an einen emotionalen Tiefpunkt.

Konnte ich einer Frau wie Barbara, jung und gesund, das blühende Leben, einen kranken Mann wie mich überhaupt zumuten?



Bereits einige Jahre zuvor hatte ich angefangen, in schweren Zeiten eine Art Tagebuch zu führen. Das half mir, meine Gedanken zu sortieren. So auch in jener Nacht, als ich voller Liebe zu Barbara war und doch voller Trauer, weil ich nicht wusste, ob diese Liebe eine Zukunft hatte. Schließlich holte ich meine Aufzeichnungen hervor. Ich notierte meine Gedanken und versuchte, für meine Gefühle Worte zu finden. Und auf einmal war da eine Frage: Konnte ich einer Frau wie Barbara, jung und gesund, das blühende Leben, einen kranken Mann wie mich überhaupt zumuten? War das nicht eine zu große Belastung für sie? Vertrug sich das mit meiner Liebe zu ihr?
Das war ein niederschmetternder Gedanke. Doch das Seltsame war – auf einmal fühlte ich bei all dem Schmerz meine Liebe zu ihr so unendlich stark, dass ich innerlich Ruhe fand. Ich wusste nun, was zu tun war. Ich musste sie freigeben, auch wenn das für mich bedeuten würde, damit auch den Traum von einer Ehefrau und einer Familie loslassen zu müssen, der in so greifbarer Nähe gewesen war. Gleich morgen würde ich mit ihr sprechen. Ich musste sie loslassen und einfach darauf vertrauen, dass das Richtige geschehen würde. Auch falls das hieße, dass sie sich gegen mich entschied.

Ob ich in jener Nacht überhaupt noch schlief, das weiß ich gar nicht mehr. In einem seltsamen Zustand der Niedergeschlagenheit und doch erfüllt von einem völlig neuen Gefühl von Frieden wartete ich am nächsten Morgen nach meiner Entlassung darauf, von meinem Vater abgeholt zu werden. Ich hatte noch etwas Zeit und beschloss, nicht länger zu zögern, bis mich womöglich mein Mut wieder verließ, sondern am besten Barbara sofort anzurufen und ihr zu sagen, was ich in dieser Nacht erlebt hatte. Es war ein schöner Morgen, der einen warmen Tag versprach. Ich ging hinaus in die Grünanlage des Spitals und spazierte einen Hügel empor bis zu einem modernen Kirchengebäude. Hier setzte ich mich schließlich auf eine Mauer in die Sonne. Mein Herz schlug zum Zerspringen, als ich Barbaras Nummer wählte.

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Außerdem im adeo Verlag erschienen ist die Biografie von Markus Hänni „Eigentlich müsste ich längst tot sein.“