Ausbruch aus der Leistungsspirale

Welche Rolle spielst du?

Alles schien perfekt. Als hübsche Vorzeigestudentin schwamm Jenifer Girke auf der Erfolgswelle. Wie es in ihr aussah, ahnte niemand.

Welche Rolle spielst du?
Foto: Steffen Roth
Dein Buch trägt den Titel Parallelwelten. Was sind für dich Parallelwelten?

Es sind die Schauplätze unseres Lebens – das nach außen gerichtete, wohl strukturierte Leben und das innerliche Befinden. Wer im realen Leben bestimmte Merkmale eines „guten“ Lebens aufweist – erfolgreicher Job, soziale Kontakte, glückliche Beziehung, genug Geld – wird oft auch mit einem emotionalen Status von Glück und Zufriedenheit besetzt. Das ist aber leider oft nicht der Fall. Wir können einen tollen Job haben, jeden Tag mit einem Lächeln im Meeting sitzen und all die Überstunden mit einem „Ich kann das schon“-Lächeln wegackern, verbergen aber, was das wirklich mit uns macht, wie erschöpft und müde wir sind. Wir können jeden Abend neben unserem Partner liegen, mit ihm Feiertage zelebrieren und ihn sämtlichen Bekannten vorstellen und dennoch verbergen, was wir wirklich brauchen und empfinden. Wir können non-stop ins Fitnessstudio laufen, uns abhungern und stolz auf unserer Facebook-Timeline tolle Selfies posten, verbergen aber, wie unglücklich wir uns immer noch fühlen und wie wenig von dem, was man sieht, echt ist.

Wir bauen uns Parallelwelten auf, um nach außen hin alles zu erfüllen, was wir erfüllen sollen und teilweise auch gerne erfüllen würden und uns dann, wenn niemand zuschaut, dem Frust hinzugeben, (bei Weitem) nicht alles erfüllt zu haben.


Du schreibst, dass du oft das Gefühl hast, verschiedene Rollen spielen zu müssen. Welche sind das für dich persönlich?

So pauschal kann man das gar nicht sagen, denn die Rollen ändern sich im Laufe des Lebens. Früher war es vor allem das wohl erzogene Kind mit Vorzeige-Tischmanieren, das nie einen Grund zum Heulen haben durfte, später die funktionierende Jugendliche mit guten Noten, weil sich eine alleinerziehende Mutter nicht auch noch um Pubertätsprobleme kümmern konnte. Und im Studium die Muster-Schülerin, die jede Extra-Aufgabe absolvierte und ein Praktikum nach dem anderen an Land zog.

Heute möchte ich genau das nicht mehr: Rollen spielen, die sich meistens sogar noch andere ausgedacht haben.



Viele davon sind einfach nur Klischees und resultieren aus dem ahnungslosen Beobachten oder Erleben einer unbekannten Person. Seit ein paar Jahren versuche ich herauszufinden, welche Rolle zu mir passt und bei welcher ich nur Theater spielen würde. Der Erfolg eines Hollywood-Streifens hängt schließlich auch maßgeblich davon ab, wie sich die Besetzung anstellt und ob sie authentisch wirkt. Wo sind wir noch authentisch? Wer kennt uns so gut, dass er uns nur in für uns passende Rollen stecken würde? In welcher Rolle können wir unseren Charakter wirklich ausleben? Versteh mich nicht falsch – es gibt Rollen, die auch ich sehr gerne einnehme und die ich (momentan) niemals ablegen wollen würde. Ich liebe es, eine fürsorgliche Tante zu sein oder eine verlässliche Kollegin oder auch eine leidenschaftliche Tänzerin. Aber wenn man in diesen Rollen sein eigentliches Ich unterdrücken muss, damit die Inszenierung perfekt läuft, läuft etwas schief.

Man sollte sich also stets fragen: Nehme ich die Rolle ein oder nimmt mich die Rolle ein?



Besonders junge Menschen haben oft Angst, Schwäche zu zeigen. Viele versuchen mit einer extremen Disziplin, zum Beispiel beim Essen oder beim Sport, einem Idealbild zu entsprechen. Woran liegt das deiner Meinung nach?

Nun ja, Schwäche zeigen ist in unserer Gesellschaft immer mehr mit einem Strafdelikt zu vergleichen. Wer schwach ist, kann nicht mehr leisten. Wer nicht mehr leisten kann, trägt nicht zu mehr Erfolg bei. Wer keinen Erfolg bringt – den brauchen wir nicht. Hört sich knallhart an, ist es auch, aber genau so läuft es in vielen Berufen. Die Smalltalk-Frage „Was machst du so?“ wird nicht ohne Grund fast immer mit der Jobbezeichnung beantwortet, anstatt zu sagen „Ich bin begeisterter Schachspieler!“ oder „Gestern habe ich meinen Urlaub nach Skandinavien gebucht – darauf freue ich mich schon!“ Wir identifizieren uns mit dem, was wir tun. Wenn wir immer mehr Zeit in Arbeit und Leistung investieren, identifizieren wir uns immer mehr mit unserer Arbeit. Da sich Arbeit durch Leistung definiert, haben wir zwangsweise ein echtes Identifikationsproblem, wenn wir aufhören zu leisten oder unseren Leistungsanspruch herabsetzen. Denn dann setzen wir ja das herab, mit dem wir uns identifizieren. Was bleibt dann noch übrig? Schwäche zeigen heißt also, weniger Anerkennung in dem zu bekommen, von dem du ausgehst, dass es dich ausmacht.

Diesen übertriebenen Eifer übertragen wir auch auf unser privates Leben – Aussehen, Fitness, Partnerschaft. Nur Leistung bringt Erfolg und Zufriedenheit – wenn das tief genug in uns verwurzelt ist, rennen wir der Illusion hinterher, auch mit uns selbst und dem Spiegelbild erst dann zufrieden sein können, wenn wir ein gewisses Aussehen erreicht haben.
Haben wir das erreicht, sind wir trotzdem nicht zufrieden. „Zufrieden sein“ hat viel mit „sich zufrieden geben“ zu tun und das meine ich absolut nicht negativ. Wenn du dich mit diesem wundervollen Bild im Spiegel zufrieden geben könntest, könntest du anfangen, auch damit zufrieden zu sein.

Das tun wir aber nicht. Wir finden immer etwas, das uns unzufrieden macht, das anders sein muss, an dem wir arbeiten müssen. Da haben wir es wieder – arbeiten, leisten, keine Schwäche zeigen, denn wer schwach ist, kann ja nicht gut sein. Zumindest nicht gut genug. Oder?



Welchen Stellenwert haben Kontrolle und Planung in deinem Leben?

Kontrolle ist ein Mittel gegen Angst. Je mehr wir kontrollieren können, je mehr wir wissen und verstehen, desto weniger Angst müssen wir vor Unvorhersehbarem haben. Grundsätzlich also keine schlechte Sache. Auch Gefühle kontrollieren zu können, befähigt uns dazu, je nach Situation angemessen zu reagieren.

Wer allerdings alles, was er tut oder zu sich nimmt, kontrollieren will und genau wissen muss, was das mit ihm oder seinem Leben macht, wird ein Sklave dieser Kontrolle. Übertriebene Kontrolle lähmt uns und entzieht uns alltäglicher Wunder, die aus Spontaneität und positiver Planlosigkeit entstehen. Kontrolle richtet sich nur nach Fakten, nicht nach Gefühlen. Das ist aber sehr schade.

Denn erst, wenn man das Leben mit Emotionen füllt, fängt es an, Spaß zu machen.



Ich habe viele Jahre meines Lebens darauf verwendet, genauestens kontrollieren zu wollen, was es mit mir macht, wenn ich esse oder nicht esse. Ich hatte Angst, durch ein ungeplantes Stück Apfelspalte zu viele Kalorien zu mir zu nehmen. Ich bekam Panik, wenn mein Lieblingscafé auf einmal keine fettarme Milch mehr benutzte oder wenn mir am Tisch jemand anderes etwas auf den Teller machen wollte. Die Folgen dieser unkontrollierbaren Eingriffe waren für mich kaum auszuhalten. Das Wann, das Wo, das Wie, oft auch das Mit-Wem steuerte mein gesamtes Essverhalten.Was ich dafür bekam? Einen immer dünneren Körper. Was ich dafür opferte? Die Fähigkeit, das Leben zu fühlen.

Auch heute ertappe ich mich dabei, immer noch Dinge kontrollieren zu wollen, die man einfach nicht kontrollieren muss, die man einfach mal „laufen lassen“ kann und auf sich zukommen lassen sollte. Immer, wenn ich mich von dieser unnötigen Kontrolle lossage, entdecke ich, wie sehr wir uns von Planungssicherheit verfälschen lassen und wie viel mehr Leben sich hinter dem Nicht-Planen, dem Offen-Sein steckt. Und dann frage ich mich, wie viel mehr Zeit ich hätte, das Ungeplante zu leben, wenn ich aufhören würde, alles planen zu wollen, obwohl ich am Ende keine Zeit mehr habe, das Geplante zu leben.



Du entlarvst in deinem Buch ziemlich schonungslos, wie Menschen von Erfolg getrieben werden. Wie gehst du als Journalistin mit Erfolgsdruck um?

Anfangs war ich damit hoffnungslos überfordert und ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass ich nicht auch heute noch Gedanken habe, die meine Leistung in Frage stellen – meine Leistung an sich, meine Produktivität, meine Herangehensweise, einfach alles.

Aber wie die Achtsamkeit schon sagt: Es sind nur Gedanken. Es ist nicht die Realität. Ich habe gelernt und lerne immer noch, mir zu erlauben, nicht immer mit allem sofort Erfolg haben zu müssen. Letztendlich möchte ich für mich einen Erfolg definieren, der mich eben nicht unter Druck setzt, weil er ein natürliches Ergebnis meiner Arbeitsweise ist. Diese Definition beruht vor allem auf einem: Vertrauen. Vertrauen in Gaben, die Gott mir geschenkt hat und in seinen Plan, wie ich sie für etwas Gutes einsetzen und all mein Können und Dasein entfalten kann.

Ich bin ein sehr neugieriger, lernbereiter, wissbegieriger, offener und empathischer Mensch. Ich liebe es, Menschen zu begegnen, sie zu begleiten, ihnen eine Stimme zu geben, ihre Situation zu verstehen und sie für andere verständlich zu machen. So bin ich. Daran kann und will ich nichts ändern. Und das sind Grundvoraussetzungen, die ich immer mit mir trage – egal, für welchen Auftraggeber ich unterwegs bin. Das notwendige Know-How habe ich durch Studium und Erfahrung dazugewonnen – eigentlich kann mir also nichts passieren. Was mir passieren kann, ist, dass ich mich in den Strudel von Vergleichen und Konkurrenz ziehen lasse und darin erbarmungslos absaufe.

Wenn du dich immer nur damit beschäftigst, welche Ziele andere schon erreicht haben oder erreichen möchten, läufst du Gefahr, deine eigenen Vorhaben anzuzweifeln und vergisst, dich zu fragen, ob die Ziele anderer dich überhaupt zufrieden machen würden – womit wir wieder bei Rollenspiel und Parallelwelten wären.



Was hat dir geholfen, aus der Höher-Schneller-Weiter-Spirale herauszufinden?

Erst einmal: herauszufinden heißt nicht herausgefunden zu haben. Es ist ein Prozess, in dem ich es immer besser schaffe, mit dieser Spirale umzugehen bzw. sie zu umgehen. Eine ganz zentrale Entdeckung war und ist für mich die Achtsamkeit und die darin verankerte Überzeugung: Wir sind viel freier in unseren Entscheidungen als wir denken. Oder mit anderen Worten gesagt: Zwischen Reiz und Reaktion liegt immer eine Freiheit. Konkret heißt das, dass wir nicht immer all das glauben oder tun müssen, was uns unsere Gedanken einreden wollen. Und die Gedanken werden uns wiederum von unserem Umfeld, den Medien und der Werbung eingetrichtert.

Wenn wir wieder einmal denken, dass wir nicht genug leisten würden und versagen, heißt das nicht, dass wir tatsächlich Versager sind. Wenn wir deswegen weiterdenken, dass wir länger arbeiten müssen, können wir das zwar denken, müssen aber trotzdem nicht länger im Büro sitzen, sondern sind dennoch in der Lage, Feierabend zu machen. Wenn wir denken, wir werden nicht geliebt, heißt das nicht, dass wir tatsächlich ungeliebt sind. Wenn wir deswegen weiterdenken, wir müssten unserem Partner noch besser gefallen, uns noch mehr nach ihm und seine Bedürfnisse richten, haben auch diese Gedanken ihre Berechtigung, aber wir müssen ihnen trotzdem nicht Folge leisten.

Gedanken sind nur Gedanken, sie sind nicht die Realität.



Wir können sie denken, wir dürfen sie da sein lassen, aber wir müssen nicht tun, was sie uns sagen. Wenn ein trockener Alkoholiker an einer Wodka-Werbung vorbeiläuft oder in einer Runde sitzt, in der sich jeder ein Bier bestellt, dann fühlt er den Reiz, auch Alkohol zu trinken, aber er ist trotzdem in der Lage, sich eine Cola zu bestellen. Wenn wir uns dieser Freiheit immer bewusster werden, wird es von Mal zu Mal einfacher, entgegen der Reize zu handeln.

Für mich liegt viel Heilung in dem Wunsch, mich so zu akzeptieren und lieben zu können wie ich bin. Erst, wenn ich mich selbst mit einem friedlichen Blick ansehen kann, kann ich auch andere so annehmen wie sie sind. Wenn ich meine Schwächen annehme, kann ich auch die Stärken anderer liebevoll annehmen. Liebe ich mich selbst, befähige ich mich dazu, andere zu lieben, ohne sie ändern oder anpassen zu wollen.

Dieses Verständnis von Selbst- und Nächstenliebe finde ich nicht in unserer schnelllebigen, leistungsorientierten Gesellschaft. Aber in der Bibel. Mein Vorbild heißt Jesus.



Kann man unsere leistungsorientierte Gesellschaft und den Erfolgsdruck denn mit damals vergleichen?

Aber hallo! Schau dir mal die Pharisäer und ihre ganzen Pflicht-Listen, Do’s und Dont‘s an. Inhalte waren sicherlich andere, aber das Empfinden, die richtige Leistung zu erbringen, gab es auch schon vor 2000 Jahren.



Was sind deine nächsten Ziele für die kommende Zeit?

Schlafen und essen. Echt jetzt! Macht jeder, aber kaum genug oder angemessen. Damit meine ich tatsächlich, mehr auf meinen Körper und seine Bedürfnisse zu achten und ihn nicht wie eine unendliche Leistungsmaschine zu behandeln oder ihn von anderen so behandeln zu lassen.

Ich möchte nicht mehr Zeit haben, denn das wäre eine nicht erfüllbare Illusion, aber ich möchte mir mehr Zeit für Dinge und Menschen nehmen, die ich in den letzten Jahren zu sehr in den Hintergrund gerückt habe.

Beruflich gesehen möchte ich mehr und mehr meinen Platz in den Medien und der Berichterstattung finden – Menschen sehen, erleben, Umstände erfahren, ihnen Zeit und Aufmerksamkeit schenken.
Denn selbst wenn wir Journalisten über Dinge oder Prozesse berichten, stecken Menschen dahinter. Also sollten wir uns doch auch dafür, für das Objekt unserer Begierde, unsere wichtigste Ressource, der Grund unseres Schaffens, die Quelle großartiger Geschichten – einfach mal etwas mehr Zeit nehmen.

Ich möchte Klischees aufbrechen, Länder bereisen und nicht nur über die Katastrophen berichten, sondern auch über Wege daraus und über all das Schöne, Bemerkenswerte, was Menschen auch heute noch auf dieser Welt tun – und Gott.

Das Interview führten Ilka Walter und Clarissa Gröschen.

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