Glaube, der auf dem Wasser läuft

Zwischen Skepsis und Glaube

Christian Wiman begibt sich angesichts seiner Krebsdiagnose auf eine mutige Suche nach Gott. Poetisch schreibt er über Persönliches und tiefe Wahrheiten.

Zwischen Skepsis und Glaube
Ein Auszug aus Christian Wimans „Mein heller Abgrund“

„Zeitpunkte“ nannte Wordsworth sie, jene Momente, in denen sich etwas in der Welt, etwas von der Welt – selbst wenn dieses Etwas etwas Intuitives und manchmal sogar unerträglich Jenseitiges offenbart – manifestiert; nicht nur manifestiert, es bekommt Handlungsmacht, Animation, Aufmerksamkeit.

Gestern Nacht schliefen meine Frau und ich endlich ein, nachdem wir über unser gemeinsames Leben und das Leben unserer Kinder gesprochen und geweint hatten – über den besonderen Glanz mancher Momente, so vieler Momente, die wir als Geschenk erfahren haben; und anschließend über das Elend meiner Krankheit und wie es uns erdrückt, das Grauen, das wir beide angesichts dessen fühlen, was passiert, falls (ich schreibe bewusst nicht „wenn“, aber wir denken mittlerweile oft daran) ich sterbe. Ich wache in der Nacht durch einen Schrecken auf, der reiner, weitgehender ist als mein eigener. Inhaltlich geht es nicht um mein Leiden, aber es ist der Schlüssel dazu, und eine ganze Stunde lang fühle ich mich versilbert wie durch eine eisige, unendliche Distanz, einen Abgrund reiner Bedeutungslosigkeit, von der ich bloß ein kleiner und sich grauenvoll fühlender Partikel bin.

Ich glaube, dass Christus die Naht ist, die dieses Ganze, das unsere begrenzte Sichtweise als Gegensätze wahrnimmt, untrennbar miteinander verbindet.



Doch ich träume nicht. Ich war noch nie so schrecklich wach. Ein „Zeitpunkt“ – und was dieser Punkt aufzeigt, ist Zeit, ist Nichtigkeit, ist Leiden ohne Bedeutung. Ich sehne mich nicht nach gedankenversunkener Gemeinschaft mit Gott. Was man in extremen Krisen haben will, ist nicht die Verbindung zu Gott, sondern die Verbindung zu Menschen; nicht übernatürliche Liebe, sondern menschliche Liebe. Nein, das ist nicht ganz richtig. Wonach man sich sehnt, ist übernatürliche Liebe, aber man findet sie nur in menschlicher Liebe. Deshalb bin ich, so wie ich bin, Christ, weil ich Gott nur durch körperliche Existenz fühlen kann, seine Liebe nur durch die Liebeanderer Menschen fühlen kann. Ich glaube an Gnade wie an Zufall, gleichzeitig. Ich glaube an absolute Wahrheit wie an absolute Kontingenz, gleichzeitig. Und ich glaube, dass Christus die Naht ist, die dieses Ganze, das unsere begrenzte Sichtweise – und unser zeitgebundener, logikbasierter Lebensstil – als Gegensätze wahrnimmt, untrennbar miteinander verbindet.

Im Glauben zu leben heißt, schnell und flink auf dem Wasser unterwegs zu sein, in das er sonst einsinken würde.



Manchmal scheine ich alle christlichen Glaubenssätze glücklich in einem aktiven Schwebezustand halten zu können – einer Fusion aus Glauben und Skepsis, die buch- stäbliche und bildliche Wahrheiten einschließt und übersteigt –, sofern ich an einer unzerstörbaren Tatsache (Tatsache?!) fest-halten kann: Jesu Auferstehung. Dieses Ereignis beantwortet jeden Impuls, jede Angst, jedes Bedürfnis meiner Fantasie, es stillt und klärt den rauen Ton der Zeit, und es erträgt mich – jene stumme, armselige, selbstlose Saat des Seins, die ich meist bin –, damit ich verstehe, was Leiden ist und was es bedeutet. Doch nein. Die Realität wankt, das Bild verblasst wie ein Spiegelbild auf dem Wasser, denn angesichts jeder Behauptung über Gott, einschließlich der, die ich in dieser Minute aufstelle, gibt der Boden nach, auf dem ich stehe, und ich bleibe wieder mit der lebendigen wie flüchtigen Wahrheit zurück: Im Glauben zu leben heißt, wie der „Jesus Lizard“ („Helmbasilisk“) zu leben, schnell und flink auf dem Wasser unterwegs zu sein, in das er sonst einsinken würde, wenn er einen Moment stehen bliebe.
 

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