„Schuldig“ – das empfinde ich schon als ein hartes Urteil. Von jemandem über sich selbst ausgesprochen klingt es fast martialisch. Aber wer Thomas Middelhoffs Buch mit diesem Titel aufmerksam liest, wird merken: Der Typ meint es ernst. Er fühlt sich schuldig. Weniger aus juristischer Sicht als aus moralischer. Was er moralisch in seinen vielen sehr erfolgreichen Jahren als internationaler Top-Manager alles falsch gemacht hat, das seziert er in seinem neuen Buch. Es ist also ein Werk der Selbstkritik, das sicherlich auch ein probates Eigen-Therapeutikum für den Autor ist.
Es ist aber auch ein herausfordernder und gleichzeitig kritischer Aufruf an all jene, die Verantwortung tragen – und das sind in gewisser Weise wir alle (auch wenn zu wenige von uns das so sehen und leben!). Ich höre Middelhoff in diesem Buch rufen: „Wir brauchen wieder Moral, Anstand und Tugenden!“ – und da stimme ich gerne ein. Unternehmen bemängeln heute häufig, dass Uni- und Hochschul-Absolventen am meisten Soft-Skills fehlen - also vor allem auch Anstand und Tugenden. Insofern sollte Middelhoffs Buch Pflichtlektüre werden für alle Business-Menschen. Aber auch für alle anderen – also für uns alle: Denn wann immer Menschen zusammen sind, braucht es Tugenden wie Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Demut. Wie diese scheitern und wie sie lebendig werden beschreibt Middelhoff an vielen Beispielen; und er macht sie auch an Kolleginnen und Kollegen fest, die bis heute erfolgreich im Business sind.
Ach ja, und dann ist da noch das Thema Scheitern, das dieses Buch durchdringt. Middelhoff ist sich nicht zu schade, sein Scheitern bis ins Detail zu erörtern – und seine Lernerfolge mit den Leserinnen und Lesern zu teilen. Er schämt sich nicht, und das ist sehr besonders, leben wir doch heute in einer sehr intensiven Scham-Kultur. Seine überwundene Scham ist wohl der Grund, warum Middelhoff dieses Buch wagen konnte: Weil er frei geworden ist von sich selbst, von seinem unersättlichen Anspruch und den vielen Todsünden, wie er sie nennt, deren Intensität in seinem Leben ihn letztlich zerstört haben: Hochmut, Maßlosigkeit, Narzissmus und Gier, um nur vier zu nennen. Diese Todsünden mit Kardinaltugenden wie weiter oben beschrieben zu begegnen, ist Middelhoffs Schlüssel für seine Wiederauferstehung nach dem Scheitern und seine Botschaft an uns alle: Nur so geht freies Leben. Dazu trägt auch sein wiedergewonnener christlicher Glaube bei, der während seiner Reise – er nennt es „Stufen zur Erkenntnis“ und „die Kraft, um wieder aufzustehen“ – für ihn tragend geworden ist.
Dass Middelhoff frei von Scham ist, zeigt sich besonders charmant am Ende des Buches, wenn er sein heutiges Leben beschreibt: wie er mit dem Fahrrad zum Einkaufen fährt und sich freut, dass er schneller ist als die anderen mit ihrem Porsche. Von solchen ganz persönlichen Einblicken, auch in seine Beziehungswelt, hätte ich mir in diesem Buch mehr gewünscht. Wenn ich allerdings bedenke, wie sehr solche Details gerne durch den Dreck gezogen werden – und hier hat Thomas Middelhoff schon viel Schmutz erlebt – verstehe ich, dass er sich auf den Aufruf zu mehr Moral, Anstand und Tugenden fokussiert.