Lebensrettende Hilfe für Babys in Not

 

Hinter einer unscheinbaren, briefkastenähnlichen Metallklappe am Krankenhaus Waldfriede im Berliner Ortsteil Zehlendorf verbirgt sich die weltweit erste Babyklappe mit Klinikanschluss. Gabriele Stangl hat sie im Jahr 2000 ins Leben gerufen – und so einen Ausweg für verzweifelte Schwangere geschaffen. Im Interview berichtet die Pastorin und Seelsorgerin von dem steinigen Weg hin zur Einrichtung der Klappe und den „Herzenskindern“ und Müttern, die sie unterstützen und begleiten durfte.


Liebe Frau Stangl, Sie sind Pastorin und Krankenhausseelsorgerin. Aber dass man Sie kennt, hat häufig einen anderen Grund: Sie haben in Berlin die erste Babyklappe eingerichtet. Wie kam es dazu?

Immer wieder begegnete ich in meiner seelsorgerlichen Tätigkeit Frauen, die durch ihre Schwangerschaft¬ in große Not geraten waren. Sie erzählten mir unter anderem, dass sie nicht wüssten, wie ihr Leben mit diesem Kind weitergehen solle, auch dürfte niemand von diesem Baby erfahren. Die älteste Frau, die mir von den dramatischen Erlebnissen aus ihrer Vergangenheit berichtete, war bereits über achtzig Jahre alt. Sie hatte sich bis zu diesem Gespräch mit mir noch niemandem anvertraut. So groß war ihre Angst, so unvorstellbar ihr Kummer, ihre Scham und Reue. Und ich konnte bestenfalls nur zuhören und trösten. Jedes Mal fühlte ich mich hilflos und ratlos: Was konnte man nur tun, um diesen Frauen eine Art „Rettungsring“ zuzuwerfen, bevor es vielleicht zu spät war? Als ich dann eines Tages von der Eröffnung der allerersten Babyklappe in Hamburg an einer Kindertagesstätte hörte, war mir schnell klar, dass so eine Einrichtung an einem Krankenhaus wohl am besten angeschlossen wäre, gekoppelt mit der Möglichkeit, den Frauen auch während der Geburt beizustehen; wenn es sein muss, auch anonym – zum Schutz des Lebens von Mutter und Kind.

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Die Babyklappe im Berliner Krankenhaus Waldfriede. Foto: Uffe Noerjgaard



Viele Menschen sind der Meinung, nur eine Rabenmutter könne ihr Neugeborenes einfach in eine Klappe legen. Was würden sie diesen Menschen antworten?


Es gibt auf dieser Welt normalerweise kein innigeres Band als das Band der Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Keine Mutter trennt sich „einfach nur so“ von ihrem Neugeborenen. Es gibt jedoch Frauen, die durch eine Schwangerschaft­ in solch tiefe Not geraten, dass sie sich an den Rand der Verzweiflung gedrängt sehen. Diese Frauen haben in den allermeisten Fällen niemanden, mit dem sie reden können. Wenn das Kind schließlich auf die Welt kommt, kann man es nicht mehr verheimlichen. Doch was dann …? Ich habe diese Frauen kennenlernen dürfen. Es sind Frauen, die ihre Kinder – aus welchen Gründen auch immer –, nicht behalten können, sei es, dass sie sich vor dem Gang aufs Amt fürchten oder gar um ihr Leben bangen. Aber sie wünschen sich so sehr, dass es ihrem Kind gutgeht und es so geliebt wird, wie ein Kind es verdient. Auch das ist Liebe: loszulassen, weil man das Glück des anderen im Sinn hat, und weil man weiß, dass man selbst dieser Aufgabe nicht gerecht werden kann. Diesen Schritt hat sich keine der Frauen, die ich kennenlernte, leichtgemacht.


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So viel Liebe: Gabriele Stangl mit einem Babyklappenbaby. Foto: privat

Liebe Frau Stangl, Sie sind Pastorin und Krankenhausseelsorgerin. Aber dass man Sie kennt, hat häufig einen anderen Grund: Sie haben in Berlin die erste Babyklappe eingerichtet. Wie kam es dazu?

Immer wieder begegnete ich in meiner seelsorgerlichen Tätigkeit Frauen, die durch ihre Schwangerschaft in große Not geraten waren. Sie erzählten mir unter anderem, dass sie nicht wüssten, wie ihr Leben mit diesem Kind weitergehen solle, auch dürfte niemand von diesem Baby erfahren. Die älteste Frau, die mir von den dramatischen Erlebnissen aus ihrer Vergangenheit berichtete, war bereits über achtzig Jahre alt. Sie hatte sich bis zu diesem Gespräch mit mir noch niemandem anvertraut. So groß war ihre Angst, so unvorstellbar ihr Kummer, ihre Scham und Reue. Und ich konnte bestenfalls nur zuhören und trösten. Jedes Mal fühlte ich mich hilflos und ratlos: Was konnte man nur tun, um diesen Frauen eine Art „Rettungsring“ zuzuwerfen, bevor es vielleicht zu spät war? Als ich dann eines Tages von der Eröffnung der allerersten Babyklappe in Hamburg an einer Kindertagesstätte hörte, war mir schnell klar, dass so eine Einrichtung an einem Krankenhaus wohl am besten angeschlossen wäre, gekoppelt mit der Möglichkeit, den Frauen auch während der Geburt beizustehen; wenn es sein muss, auch anonym – zum Schutz des Lebens von Mutter und Kind.



Die Babyklappe hat schon vielen Neugeborenen das Leben gerettet. Trotzdem gibt es auch immer wieder Kritik an dieser Einrichtung. Was stört die Kritiker daran?

Kritiker wiesen mich immer wieder darauf hin, dass Kinder, die ihre Herkunft¬ nicht kennen würden, keine „Wurzeln“ hätten und unweigerlich seelisch krank werden würden. Jeder Mensch habe das Recht, seine Herkunft¬ zu kennen. Eine Mutter mache sich strafbar wegen Entziehung Minderjähriger, Personenstandsfälschung und Verletzung der Unterhaltspflicht. Und wir als Betreiber einer Babyklappe würden Frauen dazu „ermutigen“, sich ihrer Kinder zu entledigen. Zu all diesen Kritikpunkten könnte man sehr viel sagen, ich möchte aber versuchen, es in einigen wenigen Worten zusammenzufassen: Die Babyklappe ist eine extreme Lösung für eine extreme Notsituation und dafür gedacht, den Tod eines Kindes zu verhindern, das bei Aussetzung an einem unsicheren Ort in großer Lebensgefahr wäre und sterben könnte. Bei einer Rechtsgüterabwägung müssen wir zu dem Schluss kommen, dass wir alle – auch der Staat – uns in erster Linie für den Schutz des Lebens einsetzen müssen. Es gibt nichts Höheres als das Recht auf Leben. Daher sind wir mit der Einrichtung eines sicheren Ortes wie dem der Babyklappe unserer menschlichen Verantwortung nachgekommen. Denn es wird immer Frauen geben, die andere Hilfeleistungen – und seien sie noch so gut gemeint und gedacht – nicht annehmen können oder dafür nicht erreichbar sind.


In Ihrem Buch erzählen Sie von leidvollen Geschichten, die Sie erlebt haben, aber auch von vielem Schönen. Was war ein besonderes Highlight für Sie?

Es gab so viele wunderschöne Momente, die ich erlebte. Wenn aus scheinbar unlösbaren Situationen neue Chancen erwuchsen. Wenn Mütter ihre Kinder behielten und sich in ein neues Leben mit ihnen wagten. Wenn ich in den Augen der Adoptiveltern die Liebe zu „ihrem“ Kind sehen durfte oder wenn scheinbar, wie aus dem Nichts ein „Wunder“ geschah – wissen Sie, da bekommt Gott und Seine Liebe zu uns ein Gesicht! Ich staune heute noch, wenn ich an Samuel und seine Geschichte denke, und freue mich so sehr, wenn ich zu so manchem Kind bis heute Kontakt habe und es zu einem glücklichen und zufriedenen Menschen herangewachsen ist. Die Wahrheit über die Umstände ihrer Geburt und ganz viel Liebe haben sie stark gemacht. Durch das Schreiben dieses Buches ist es mir wieder einmal bewusst geworden, dass ich immer nur danken kann: den Menschen, die mich in dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben, vor allem aber meinem Gott.

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Das kleine Schnullerbaby Mia. Foto: privat



Ihre Arbeit war immer wieder sehr kräftezehrend. Sie berichten, dass Sie zum Teil mitten in der Nacht angerufen wurden, wenn wieder ein Neugeborenes abgegeben wurde. Was gab Ihnen die Kraft, weiterzumachen?

Es gab Tage, an denen ich sehr erschöpft war! Aber das waren nicht unbedingt die Tage, an denen ich viel und lange arbeiten musste. Es waren die Schicksale der Frauen, die mich an meine seelischen Grenzen kommen ließen. Oder wenn ich merkte, dass es einfach nicht voranging, so sehr ich mich auch bemühte. Aber diese Dinge gehören zum Leben. Das gehört dazu, wenn man etwas Neues beginnt. Man konnte mich nie ärgern, wenn man mich aus dem Bett geholt hat, um einem Menschen in Not beizustehen und zu helfen. Ganz im Gegenteil: Geärgert habe ich mich, wenn man mich nicht geholt hat. Wenn Sie mich fragen, was mir die Kraft gegeben hat, weiterzumachen, so ist diese Frage für mich einfach: Ein gut gelöster „Fall“ ermutigte immer, auch des nächsten guten Mutes anzupacken. Das Lächeln im Gesicht einer Frau, die gestärkt unser Haus verlassen konnte. Die gute Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen. Die Besuche „meiner Kinder“! Ein liebes Wort, wenn wieder einmal alles schiefzulaufen schien. Und nicht zuletzt: Kaffee und viel Schokolade …!


Das Interview führte Dorothea Gösele.


Herzenskinder

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