Von der Löwenmutter zur Vorkämpferin



„Sie haben einen Idioten geboren!“ Mit diesen niederschmetternden Worten wird die frisch gebackene Mutter nach der Narkose vom Arzt begrüßt. Ihr Sohn Olaf wird mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom, geboren. Zunächst ist sie zutiefst verunsichert. Doch beim Anblick ihres hilfsbedürftigen, niedlichen Säuglings erwacht ihr Kampfgeist, der sie ihr Leben lang nicht mehr verlassen wird … Erfahren Sie die Hintergründe im Interview.


Liebe Frau Müller-Erichsen, eigentlich waren sie an der Universität in Gießen angestellt – im Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung. Aber nachdem Ihr zweites Kind geboren war, sind Sie einer neuen Berufung gefolgt. Was war der Auslöser dafür?

Mein Sohn Olaf kam durch einen Kaiserschnitt auf die Welt. Als ich aus der Narkose aufwachte, habe ich erfahren, dass mein Kind mit dem Down-Syndrom geboren wurde, und damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. Ich war außerdem konfrontiert mit einer sehr negativen Prognose des Kinderarztes. Die erste Zeit war nicht leicht. Nicht wegen Olaf selbst, sondern wegen dem unaufgeklärten Umfeld. Aber das hat mir geholfen zu erkennen, dass hier meine Aufgabe liegt. Natürlich musste ich mich dann entscheiden: Kinder, Uni und Lebenshilfe – 1979 wurde ich zur Vorsitzenden der Lebenshilfe gewählt – so entschied ich mich 1981 für Kinder und Lebenshilfe.

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Maren Müller-Erichsen mit ihrem Sohn Olaf



Wie waren die Reaktionen in Ihrem Umfeld nach der Geburt von Olaf?

Das Umfeld – auch die Verwandtschaft¬ – war verunsichert. Konnte man zur Geburt eines behinderten Kindes gratulieren? Nach der Geburt von meinem ersten Sohn, Michael, haben alle Gäste gefragt, ob sie das Baby sehen können. Bei Olaf hat das fast keiner gefragt. Bis ich die Wiege in das Wohnzimmer gestellt habe. Ich habe beschlossen, jetzt müssen sie ihn sehen! Erst nach ca. 6 Monaten hat sich das Umfeld zu unserem Olaf normalisiert. Eine besonders schöne Reaktion gab es allerdings noch: Michael liebte seinen kleinen Bruder sofort!



Olaf wurde im Jahr 1975 geboren. Damals sahen die Betreuungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder mit Behinderung noch anders aus. Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Es gab im Raum Gießen keine Beratung für Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung, die Literatur war defizitorientiert, der Kinderarzt hatte keine Erfahrung. Ich hatte versucht, mich zu informieren und dabei gelesen, dass Kinder mit Down-Syndrom möglichst früh eine Krankengymnastik bekommen sollten. Da meinte der Arzt: „Ja, wenn Sie meinen, dann schreib ich Ihnen das auf“, aber er wäre selbst nicht draufgekommen. Hat er dann aber brav immer wieder verschrieben. Weitere Empfehlungen hatte er nicht. Und die Eltern hielten sich auf dem Spielplatz auch aus Unsicherheit zurück.


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Bei der Verleihung des Bundesverdienstordens 1. Klasse mit Volker Bouffier

Sie waren und sind bis heute in großem Maße ehrenamtlich aktiv und hatten dabei schon viele verschiedene Positionen inne. Was hat Sie dazu motiviert, weiterzumachen, auch wenn es zäh und mühsam wurde?

Die Entwicklung von neuen Konzepten, speziell die inklusiven Projekte, begeisterten mich, damals und auch noch heute. Wichtig ist mir dabei das Miteinander von Kindern mit und ohne Behinderung. Ich habe das ja bei meinen eigenen Jungs miterlebt: Olaf hatte zum Beispiel oft¬ einen Drang, seinem Bruder alles nachzumachen, das hat ihm viel gebracht. Daher kam die Idee, den Kindergarten in der Lebenshilfe umzuwidmen. Letztlich ist es ein Gewinn für beide Seiten: Das Kind mit Behinderung bekommt Anregungen und das Kind ohne Behinderung lernt, damit umzugehen, sich einzufühlen und auf die Fähigkeiten des Kindes einzugehen. Auch sie brauchen da eine Kompetenzerweiterung. Bei Familien, die nur das eine Kind mit Behinderung haben, finde ich es wichtig, dass es frühzeitig in eine Krabbelgruppe kommt, damit es dort Kontakt mit anderen Kindern hat. Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft¬ ist noch lange nicht „normal“, d.h. es gibt auch heute noch viel zu tun!



Die Lebenshilfe Gießen ist das Zentrum Ihres Engagements. Welche besonderen Erfolge haben Sie mit dem Team dort errungen?

In der Lebenshilfe habe ich viele Angebote für die Menschen mit Behinderung auf den Weg gebracht. Besonders wichtig war z.B. die interdisziplinäre Frühförderung, die inklusiven Kitas und Schulen und die kleinen Wohnformen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die diesen Weg mitgegangen sind, danke ich noch heute von Herzen.


Um nachhaltige Veränderungen für alle Menschen umsetzen zu können, waren Sie auch viel auf politischer Ebene aktiv. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? Und welche Wegbegleiter haben Ihnen geholfen?

Ich habe viele hessische Sozialministerinnen und Sozialminister von allen Parteien kennengelernt, auch kommunale Politiker, alle hatten ein offenes Ohr für meine Anliegen. Die Umsetzung hat allerdings nicht immer gleich geklappt, aber step by step ging es schon voran. Besonders danke ich Volker Bouffier, ehemals Innenminister und später Ministerpräsidenten und Winfried Kron, Referent im Sozialministerium, beide haben mich immer unterstützt und waren vor allem immer offen für neue Projekte.

Das Interview führte Dorothea Gösele.

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